Individuelles Lernen: Wie Rechtschreibförderung trotz Lehrkräftemangel möglich wird

Dass unser Bildungssystem Lücken hat, die immer weiter aufklaffen, zeigten erst kürzlich die Meldungen zum sogenannten „IGLU-Schock“. Für die Pädagog:innen und Wissenschaftler:innen, die das Diagnose- und Fördertool „Lernserver“ entwickeln und betreuen, sind aber gerade die in den IGLU- und IQB-Studien attestierten schlechten Leistungen deutscher Grundschulkinder im Lesen und Schreiben keine Überraschung: Sie beschäftigen sich teils seit über zwanzig Jahren mit den Konsequenzen fehlender Grundlagenkenntnisse im Bereich der Rechtschreibung. Die Soziologin und Erziehungswissenschaftlerin Maria-Valentina Westermann ist Projektleiterin des Lernservers und zeigt im Interview Möglichkeiten und Spielräume für Schulleitungen und Lehrkräfte auf, Kindern aller Schwierigkeiten zum Trotz die dringend notwendige Förderung zukommen zu lassen.

Weshalb sind mangelnde Rechtschreibkenntnisse so ein großes Problem?

Maria-Valentina Westermann: Lehrkräften ist eigentlich schon lange klar, dass die Rechtschreibung keine isolierte Fähigkeit ist, sondern sich durch alle Fächer zieht. Wenn Schülerinnen und Schüler beim Lösen einer Aufgabe – ganz gleich ob das jetzt Mathe, Deutsch oder Politik ist – jedes Mal die richtige Schreibweise reflektieren müssen, dann hält das auf und blockiert. Haben sie starke Probleme in der Rechtschreibung, dann tun sie sich in der Regel auch mit dem Lesen schwer. Das wiederum führt dazu, dass der Umgang mit und die Verarbeitung von Texten zum Problem wird. Diese Schwierigkeiten verhindern, dass sich die Kinder und ihre Lehrkraft auf die konkreten Inhalte konzentrieren können. Gravierende Rechtschreibschwierigkeiten sind also nicht zu vergleichen mit Teilbereichen des Biologieunterrichts, die einem vielleicht etwas weniger liegen, sondern ziehen sich durch die gesamte Schullaufbahn. Hinzu kommt für die Lehrkräfte natürlich auch ein großer Zeit- und Korrekturaufwand, wenn Texte der Schüler vor lauter Rechtschreibfehlern oder sogar kaum erkennbarer Wörter schwer zu erfassen sind.

Das Problem ist nun aber, dass Rechtschreibung ein komplexes Feld ist und die Fähigkeiten hier nur bedingt aufeinander aufbauen. Die Schwierigkeiten können in ganz verschiedenen Teilbereichen der Rechtschreibung liegen und sind daher nicht einfach für alle gemeinsam in einer wiederholenden Unterrichtseinheit lösbar. Jedes Kind mit Rechtschreibschwierigkeiten hat andere Baustellen und diese sind mal größer, mal kleiner.

Wie kann ich denn als Lehrkraft diesen sehr unterschiedlichen Bedürfnissen der Schüler:innen überhaupt gerecht werden?

Maria-Valentina Westermann: Ein erster Schritt wäre, sich einen schnellen Überblick über den individuellen Lernstand der Kinder zu verschaffen. Standardisierte Rechtschreibtests ermöglichen die Ermittlung der Rechtschreibfähigkeiten aller Schülerinnen und Schüler in einer Klasse und lassen Rückschlüsse über die Ausprägung der Heterogenität zu.

Der nächste Schritt, nämlich die individuelle Förderung, ist in der Regel aber genau das, woran es hakt. Um das in der Praxis überhaupt umsetzen zu können, brauchen Lehrerinnen und Lehrer nicht nur ein präzises und zuverlässiges Diagnose-Tool, sondern individuell abgestimmtes Material, das genau dort ansetzt, wo Schüler und Schülerinnen Schwierigkeiten haben. Außerdem sollte das Material möglichst flexibel einsetzbar sein, denn die Schulen haben sehr unterschiedliche Modelle für die Rechtschreibförderung: Mal findet sie in den Deutsch-Unterricht integriert statt, mal als Zusatzangebot zum Beispiel in Förderkursen, an anderen Schulen gibt es eine wöchentliche Rechtschreib-Stunde.

Darüber hinaus gibt es Kinder mit einer diagnostizierten Lese-Rechtschreib-Störung. Sie können durch Nachteilsausgleich wie längere Arbeitszeiten, Hilfsmittel und Notenschutz kurzfristig entlastet werden. Abgesehen davon, dass dies für die Lehrkraft aber natürlich auch eine Zusatzbelastung und organisatorischen Mehraufwand bedeutet, hat das Kind seine Rechtschreibung damit noch nicht verbessert, also das eigentliche Problem noch nicht gelöst.

Sie bieten mit dem Lernserver sowohl ein ausgefeiltes und praxiserprobtes Diagnose-Tool als auch Fördermaterialien, mit denen im Anschluss an die Diagnose sofort individuell gelernt werden kann. Erkennt Ihr Diagnose-Verfahren auch, ob ein Kind tatsächlich eine Lese-Rechtschreib-Störung hat?

Maria-Valentina Westermann: Der Lernserver liefert mit der Münsteraner Rechtschreibanalyse (MRA) die Grundlage für die Entscheidung, ob ein Kind unter LRS, also Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten, leidet. Dabei wird der Stand des Kindes ermittelt, auf dem es sich im Vergleich zu seiner Altersgruppe bundesweit befindet. Diese und weitere Kennzahlen sind eine wichtige Informationsbasis für Schulpsychologen oder Kinderärzte, die zuständig für die Diagnose von LRS-Problemen oder Legasthenie und damit dem Veranlassen von weiteren Maßnahmen sind. In aller Regel werden weitere Tests mit hinzugezogen, unter anderem auch deshalb, um organische Ursachen wie Schwerhörigkeit oder Fehlsichtigkeit auszuschließen.

Auch nach einer schulpsychologischen Diagnose bleibt jedoch noch immer die Frage, was man in der Schule tun kann, um dem Kind zu helfen. Denn zum einen erhält nicht jedes Kind augenblicklich eine externe (und effektive) LRS-Therapie und zum anderen ist mittlerweile klar, dass die Diagnose LRS nicht bedeutet, dass das Kind seine Fähigkeiten nicht ausbauen kann.

Was ist angesichts der durchschnittlich schlechten Rechtschreibkompetenzen noch normal, was ist bereits LRS?

Maria-Valentina Westermann: Die Frage, wie die Schwierigkeiten eines Kindes genau zu klassifizieren sind, ob ein Kind also „Legasthenie“, „LRS“ oder eine „vorübergehende Schwäche“ aufweist, ist nicht ganz einfach zu beantworten.

Zwar hat sich mittlerweile fachübergreifend die Sichtweise durchgesetzt, dass jedes Kind seine ganz eigene individuelle Problematik aufweist und seine Förderung im Vordergrund stehen sollte; dennoch gibt es vereinheitlichende Bestimmungen und Verordnungen zur Klassifikation, nach denen sich Lehrer, Schulen und Förderkräfte richten müssen. Leider haben wir es an dieser Stelle aber mit einem weiteren Dilemma zu tun, denn Legasthenie oder LRS wird in den einzelnen Bundesländern jeweils anders definiert und diagnostiziert. Für die Eltern und Förderkräfte von Kindern mit Rechtschreibschwierigkeiten heißt das: Sie müssen sich nach den aktuell geltenden Legasthenie-Erlassen ihres Bundeslandes richten.

Weitere Informationen und den aktuellen Forschungsstand haben wir für Interessierte und Betroffene auf unserer Homepage zusammengefasst.

„Möglichst jedes Kind sollte die Förderung erhalten, die es benötigt, um das Schreiben und Lesen zufriedenstellend erlernen zu können – unter welcher Überschrift auch immer.“
 

Das hauptsächliche Anliegen des Lernservers ist jedoch, möglichst jedem Kind die Förderung zukommen zu lassen, die es benötigt, um das Schreiben und Lesen zufriedenstellend erlernen zu können – unter welcher Überschrift auch immer. Denn die Probleme mit der Rechtschreibung wachsen sich leider nicht aus. Ohne zusätzliche Unterstützung sind Kinder überfordert und die Schulunlust ist vorprogrammiert.

Apropos Unlust: Wie lassen sich Kinder und Jugendliche Ihrer Erfahrung nach dazu motivieren, an ihrer Rechtschreibung zu arbeiten?

Maria-Valentina Westermann: Schülerinnen und Schüler sind sich sehr wohl der Bedeutung von Rechtschreibung bewusst. Abgesehen vom Image von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten wissen sie auch, dass der Umgang mit Texten ihnen leichter fällt, wenn sie sich einmal intensiver mit dem Aufbau der Schriftsprache befassen. Kein Kind schreibt gerne falsch. Um aber hier selbst die Initiative zu ergreifen, brauchen die meisten schon einen kleinen Schubser. Lehrkräfte können dafür sorgen, die Eingangsmotivation herstellen. Wenn die Schülerinnen und Schüler dann Fortschritte bemerken, steigt die Motivation automatisch. Wichtig ist nach unserer Erfahrung aber auch, dass die verwendeten Übungsmaterialien altersgerecht gestaltet sind. Wenn Teenager mit Grundschulmaterial arbeiten sollen, kann man sich denken, dass das nicht gut ankommt.

Vielerorts stellt sich an Schulen noch ein großes Problem: nämlich fehlendes Personal und zu wenig Zeit. Wie kann Rechtschreib-Förderung unter diesen Umständen trotzdem stattfinden?

Maria-Valentina Westermann: Besonders in den höheren Klassen kann es eine Herausforderung sein, diese zusätzliche Baustelle clever unterzubringen. Die Lernserver-Materialien sind aber bewusst so konzipiert, dass sie in allen denkbaren Szenarien eingesetzt werden können. Wenn es Räumlichkeiten für additive Maßnahmen wie Förderkurse oder eine Rechtschreib-AG gibt, nicht aber personelle Ressourcen, lohnt es sich, über Tutoren-Modelle nachzudenken, bei denen ältere Schülerinnen und Schüler die Förderung der jüngeren übernehmen. Solche Tutoren-Einsätze sorgen sogar häufig für mehr Motivation bei den Förderkindern.

„Auch der Einsatz von Studierenden oder Quereinsteigern in der Anfangsphase ist denkbar. Das Lernserver-Material liefert direkt das didaktische Hintergrundwissen.“
 

Auch der Einsatz von Studierenden oder Quereinsteigern in der Anfangsphase ist denkbar. Das Lernserver-Material liefert direkt das didaktische Hintergrundwissen mit für all diejenigen, sie sich nicht hauptberuflich mit dem Thema Rechtschreibung beschäftigen. Es kann also wie eine Art praxisbezogene Weiterbildung genutzt werden. Angehende und junge Lehrkräfte zum Beispiel lernen auf diese Weise die Tücken, aber auch Möglichkeiten unserer Schriftsprache kennen. Sie bekommen ein Gefühl für den Zusammenhang zwischen Lesen und Schreiben und für die vielen Stolperstellen für die Kinder und wie sich diese bewältigen und Lösungen vermitteln lassen. Dieses fundierte theoretische, gleichzeitig aber anwendungsorientierte Wissen kommt im Studium häufig leider zu kurz, ist aber enorm wichtig, um diesem wachsenden Problem souverän begegnen zu können.

Eine Möglichkeit für eine zusätzliche integrierte Förderung für alle Kinder einer Klasse wäre, die schwächsten Schülerinnen und Schüler in einem additiven Kurs zu fördern und die Förderung jener mit weniger gravierenden Schwierigkeiten in den regulären Deutschunterricht zu integrieren. Gelingen kann das mit vorbereiteten passgenauen Materialien, an denen dann beispielsweise in den ersten 10 Minuten jeder Deutschstunde oder in Phasen der Freiarbeit weitergearbeitet wird. Einige Schulen gehen auch dazu über, aus einer Deutschstunde eine reguläre Rechtschreib-Stunde zu machen, auch das ist natürlich eine gute Möglichkeit, förderbedürftige Schülerinnen und Schüler mit dem eigens auf sie abgestimmten Material arbeiten zu lassen und mit dem Rest der Klasse knifflige Rechtschreib-Themen gemeinsam anzusprechen und zu erarbeiten.

Und schließlich sollten man auch die Möglichkeit, die Eltern einzubeziehen, nicht außer Acht lassen. Es kann durchaus sinnvoll sein, den Eltern gegenüber offen anzusprechen, dass aufgrund von Lehrermangel und allgemein gestiegenem Förderbedarf im LRS-Bereich es nicht mehr möglich ist, allen Kindern die Förderung zukommen zu lassen, die sie eigentlich bräuchten. Jene Kinder, deren Eltern eine häusliche Förderung realisieren können, könnten also den Kindern einen Platz im Förderkurs überlassen, deren Eltern dazu nicht in der Lage sind. Die Lernserver-Materialien mit den zusätzlichen Informationen zu Didaktik und Anwendung können den Eltern für eine sinnvolle und effektive häusliche Förderung zur Verfügung gestellt werden. Auf diese Weise kann zuhause gleich losgelegt werden.

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